Bücher

Christoph Müller und Peter Gysling:

Die Seidenstrasse heute, 2012,  Beobachter-Verlag

http://www.beobachter.ch/buchshop/detail/shop-produkt/die-seidenstrasse-heute/

ISBN: 978-3-85569-557-7

 

Martin Woodtli und Christoph Müller

Mit Alzheimer im Land des Lächelns, 2013, Weltbild-Verlag,

ISBN-13: 9783038124818

http://www.weltbild.ch/3/17774456-1/buch/mit-alzheimer-im-land-des-laechelns.html#Information

 

 

  • Zeitungsartikel

 

Tages Anzeiger vom 12.06.2007;

Die Leitungen sind bestellt, also berichten wir

 

Informationen werden auf unterschiedlichsten Kanälen in immer höherem Tempo verbreitet. Sind wir deswegen klüger geworden? Ein Plädoyer für Entschleunigung im Journalismus.


Von Christoph Müller 

         

Ich möchte nicht in Verdacht geraten, vollkommen von gestern zu sein. Und gestehe darum, dass ich ein williges Opfer all jener Marketing-Strategen bin, die mir ein besseres Leben versprechen, wenn ich nur endlich einen neuen Flachbildschirm hätte,  Ich bin doch nicht blöd! Und darum gebe ich freiwillig zu Protokoll:

Ich bin verloren, wenn ich einen Elektronikmarkt betrete. Ich kaufe alles, was mich gerade anlacht, und habe noch nie einen Ipod-Shop verlassen, ohne ein weiteres dringend nötiges Accessoire zu kaufen. So besitze ich mittlerweile zwei kleine Radiosender, die Musik von meinem Ipod auf andere Geräte wie Autoradios übertragen können, wenn sie denn könnten. In Tat und Wahrheit funktionieren sie natürlich nur ausnahmsweise. Ich habe auch schon drei verschiedene Etuis, obwohl ich immer das gleiche brauche. Und weitere praktische Geräte wie einen Ipod-Wecker, obwohl ich immer von selbst aufwache. So viel zum Thema Wirtschaftswachstum dank technischer Innovation.

Beim Fernsehen surfe ich immer öfter gleichzeitig im Internet. Was natürlich dazu führt, dass ich sofort wieder vergesse, was meine Kollegen gesendet haben. Den E-Mails, die ich gleichzeitig verschicke, mangelt es an jeglicher Raffinesse, und ab und zu verschicke ich sie auch an eine falsche Adresse. So viel zum Thema Multitasking.

Mein Blackberry-Handy habe ich in den vergangenen Sommerferien eigentlich nicht darum an den Strand mitgenommen, weil ich im Geschäft unersetzlich bin, sondern um darauf Sudoku zu spielen. Seltsamerweise hat mich auch gar niemand aus dem Büro angerufen, was mich dann doch ein wenig irritierte. Auf jeden Fall waren die meisten anderen Männer am Strand beeindruckt. Handymässig war ich eindeutig der Silverback. Den Frauen war es irgendwie egal. Soviel zum Thema ständige Erreichbarkeit.

Wie Sie sehen können, bin ich ein begeistertes Mitglied dieser neuen Techno-Kirche. Ein fanatischer User dieser immer neuen elektronischen Möglichkeiten, der permanenten interaktiven Vernetzung, der multimedialen Berieselung. Als Reporter und Redaktor beim Fernsehen habe ich in drei Jahrzehnten zudem die rasante Veränderung der technischen Möglichkeiten erleben dürfen. Ich lade Sie darum ein zu einer kleinen Reise durch die jüngere Fernsehgeschichte. Diese Reise steht unter dem Motto der Beschleunigung.

Ich habe diese Reise selber mitgemacht, als Korrespondent, als Sonderberichterstatter und als Leiter unserer täglichen News-Sendung «10 vor 10». Doch diese Reise hat mich leider zur Überzeugung geführt, dass wir irgendwie im falschen Zug sitzen.

Wir brauchen dringend eine Kur. Eine Kur der Entschleunigung.

Aber lassen Sie mich zuerst ein paar Geschichten aus dem Leben eines News-Reporters erzählen: Es war 1986, auf dem Höhepunkt der Nicaragua-Krise, als die Reagan-Administration aus dem zentralamerikanischen Hinterhof einen Brennpunkt des Kalten Krieges machte. Ich lebte damals in New York, und es verging kaum eine Hauptausgabe der Abendnachrichten ohne eine Meldung zum Thema Nicaragua. Da machte das damalige Medienhaus Time/Warner eine Umfrage, in der die simple Frage gestellt wurde: Wen unterstützt die Reagan-Administration? Die sandinistische Regierung oder die Contras? Das Resultat war verblüffend: Es waren jeweils ungefähr 50 Prozent, die glaubten, Reagan unterstütze die einen und die anderen.

Kurz und gut: Die täglichen Updates über Nicaragua blieben ohne jedes Resultat. Ich kann mir das nur so erklären, dass die Kürze der Meldungen in den Nachrichtensendungen den Sachverhalt des Konfliktes bis zur reinen Unverständlichkeit verkürzten. Und so hat denn die alte Weisheit, dass in den USA ein Politiker nur etwas werden kann, wenn er in der Lage ist, in sieben Sekunden zu erklären, was er will, direkt in die Unerklärbarkeit der einfachsten Zusammenhänge geführt.

Meine zweite Erfahrung mit der Beschleunigung des Nachrichtengeschäfts hatte ich während meiner Korrespondentenzeit in Moskau. Als sich 1993 der Konflikt zwischen Präsident Jelzin und dem oppositionellen Parlament zuspitzte und Jelzin schliesslich das Weisse Haus in Moskau mit Panzern schwarz schiessen liess, hätten wir Korrespondenten erstmals ruhig zu Hause bleiben können, denn CNN hatte in kürzester Zeit drei Satellitenschüsseln rund um den Kampfschauplatz aufgebaut und so die ganze Schiesserei live übertragen.

Die Sache hatte nur einen kleinen Hacken: Der Informationswert der stundenlangen Live-Übertragungen vom Ort des Geschehens war dürftig. Es waren zwar spektakuläre Bilder, als die Granaten im Regierungsgebäude einschlugen, und es waren spektakuläre Gerüchte, wenn die Korrespondenten live darüber werweissten, was eigentlich vor sich ging. Doch was man gerne gewusst hätte, erfuhr man nicht: Wer stand genau gegen wen? Wie viele Verletzte hatte es gegeben? Wer hatte den Schiessbefehl gegeben? Man wusste es nicht, und man weiss es bis heute nicht im Detail. Das Live-Fernsehen war integrierter Bestandteil des politischen Prozesses geworden.

Den Höhepunkt der weiteren Entwicklung durfte ich im letzten Irak-Krieg erleben, als ich in Kuwait wie ein paar Hundert Kollegen vor laufender Kamera mit ein paar dürftigen Meldungen einen Beitrag improvisierte, um meinen Zuschauern zu Hause zu erklären, was ich selber nicht verstand. Aber es war ganz einfach: Die Leitungen für die Live-Schaltungen waren bestellt, mehrmals täglich, der Krieg war im Gange, die News-Einschaltsendungen brauchten Futter, also berichteten wir.

Dieser Vorgang wurde beschleunigt durch die Kollegen, die sich mit den Kriegern in den Schützengraben gelegt hatten, also «embedded» waren. Sie berichteten ebenfalls permanent. Der Haken an der Sache: Die Journalisten in Helm und schusssicherer Weste durften zwar berichten, nur die ersten vier Ws des Journalismus (Wer, Wie, Wo Was), die man jedem Volontär in der ersten Woche hinter die Ohren schreibt, konnten sie nicht beantworten: militärisches Geheimnis! Keine Verletztenzahlen, keine Positionsangaben, keine Auflistung der Toten, zum Teil schlichte Desinformation. Wie zum Beispiel die renommierte BBC, deren «embedded journalists» über Tage behaupteten, es gebe Anzeichen für einen Volksaufstand in Basra. Nur fand dieser leider nie statt, wie man durch einen Telefonanruf nach Basra herausfinden konnte. Der Krieg als Event, Real-time-Berichterstattung mit wenig konkreten Informationen oder solchen, die im besten Fall erst Monate später publiziert werden können. Wie sagte es Jim Clancy, einer der Anchormen von CNN, so schön: «Ich bin sicher, es ist besseres Fernsehen. Ich zweifle, ob es besserer Journalismus ist.»

Somit haben wir es mit drei grundsätzlichen Problemen zu tun:

Wir erzählen dem Publikum unsere Geschichten so, dass sie unverständlich sind oder dass ihr faktischer Gehalt gegen null geht.

Wir bringen diese Geschichten so schnell auf den Sender, dass uns oft keine Zeit bleibt, Fakten zu überprüfen oder einen Stoff zu überdenken.

Wir nehmen uns zu wenig Zeit, um die Fakten zu gewichten.

Manchmal wünsche ich uns jene Gelassenheit, die die «Neue Zürcher Zeitung» früher hatte, indem sie brandheisse News schlicht ignorierte, weil man sich auf der Redaktion die Sache offenbar nochmals überlegen wollte.

Für unsere Entschleunigungskur schlage ich drei Rezepte vor:

I. Genauer werden

Journalisten sollten wieder zurückkommen auf die Grundlagen ihre Handwerks: Genauigkeit, korrekte Analyse, Verlässlichkeit. Schnell sein kann jeder, der ein Handy mit Fotoapparat oder Videofunktion hat und zufälligerweise am richtigen Ort steht. Was diese Art von Dokumenten betrifft, wird Youtube möglicherweise die Fernsehanstalten bald überflügelt haben.

Umso notwendiger sind Medien, die korrekt einordnen und in denen es nicht möglich wäre, ein solch brillantes Werk der Pseudoplausibilität wie «Loose Change» zu zeigen, weil es allen akzeptierten journalistischen Richtlinien widerspricht. In dem Film versuchten drei junge Leute aus den USA, die These zu belegen, dass die US-Regierung den Anschlag auf das World Trade Center selber inszeniert hatte.

II. Sich mehr Zeit nehmen

Zeit, um zu produzieren. Zeit, um zu kommunizieren. Natürlich stösst dies an ökonomische Grenzen. Ich habe dieses Problem für mich selber so gelöst, dass ich seit Ende der 90er-Jahre praktisch nur noch als Videojournalist arbeite. Ich bin also Kameramann und Journalist in Personalunion. Durch diese günstige Produktionsweise habe ich einen gewissen Spielraum gewonnen. Ich kann länger drehen, kann mich intensiver und intimer den Menschen annähern, als wenn ich mit einem grossen und teuren Fernsehteam die Leute erschrecken würde. Einem Team, das zudem möglichst Zeit sparend eingesetzt werden sollte. Als Video-Dokumentarist habe ich ganz andere Freiheiten. So werden manche Filme - dank der einfachen und günstigen digitalen Technik - besser und oft auch billiger. Ein Teil der Dokumentarfilme des Schweizer Fernsehens wurde so produziert. Mit beträchtlichem Erfolg bei den Zuschauern (zum Beispiel «Neue Heimat Lindenstrasse» von Beat Bieri und Ruedi Leuthold oder «Familie Feierabend»).

III. Besser erzählen

Besser heisst hier: verständlicher, nachvollziehbarer, persönlicher. Fernsehen unterliegt schliesslich den gleichen Kommunikations- und Rezeptionsmechanismen wie jede andere Form menschlicher Verständigung. Und diese Mechanismen werden sich auch nicht so schnell ändern. Die Menschheit wird nicht in der Lage sein, eine Schnittfolge von zwei Bildern pro Sekunde aufzulösen, nur weil es dem Regisseur so gut gefallen hat.

Journalisten sind Kundschafter im Steinbruch der Wirklichkeit, sie sollen ausgewählte, richtige, interessante und wahrheitsgetreue Berichte nach Hause bringen, und sie sollen uns diese Geschichten so erzählen, wie es Geschichtenerzähler schon immer getan haben: überzeugend in der Form, unterhaltsam, relevant und mit persönlicher Glaubwürdigkeit. Und vor allem: nachvollziehbar! Unsere journalistischen Produkte müssen authentisch sein, und genau diese Authentizität und die daraus folgende Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut, das ein Fernsehsender erreichen kann. Unsere Kommunikation soll offen sein, nachvollziehbar, durchaus gemächlich im Rhythmus und darum verständlich. Es ist eine Kommunikation zwischen dem Macher und jeder einzelnen Person im Publikum.

So war denn die folgende Geschichte vielleicht meine erste richtige «Medienerfahrung». Mein Vater verschaffte sie mir, wenn er an Weihnachten jeweils jene Geschichte von Selma Lagerlöf vorlas, in der am Heiligen Abend die junge Selma und ihre Grossmutter die beiden Einzigen waren, die nicht zur Mitternachtsmesse gehen konnten; die eine, weil sie zu jung, und die andere, weil sie zu alt war. Und so erzählte die Grossmutter ihrer Enkelin ihre ganz eigene Version der Weihnachtsgeschichte, die nicht wirklich der offiziellen entsprach, und sie endete in dem schönen Satz, der jede Form menschlicher Kommunikation auf den Punkt bringt: «Diese Geschichte ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst.»

So werden journalistische Geschichten-Erzähler auch in Zeiten, in denen Marketing-Leute, Medienmanager, Techno-Fetischisten, Gadget-Verkäufer, Internet-Spekulanten, Telefongesellschaften, Hard- und Softwarehersteller uns den Kopf zudröhnen, notwendiger sein denn je, um in diesem gewaltigen Rauschen aus Millionen von Quellen, diesem permanenten Gelabber der Blogger und dieser vor Eitelkeit besoffenen Welt der Foto-Galerien etwas gegenüberzustellen, was über den beliebigen «Content» hinausgeht: klassischer, guter Journalismus, der sich ganz sorgfältig an die Wirklichkeit herantastet und dabei glaubwürdig und verständlich bleibt. Gelassen und jenseits jeder marktschreierischen Beschleunigung - Journalismus also, der ebenso wahr ist, wie dass ich Sie sehe und Sie mich.

Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor kürzlich am deutschen Fraunhofer Institut Intelligente Analyse- und Kommunikationssysteme gehalten hat.


 

ZUM AUTOR

Christoph Müller

Christoph Müller, 57 Jahre alt, ist Redaktionsleiter der Sendung «Reporter » beim Schweizer Fernsehen. Er ist Autor verschiedener Dokumentarfilme («Familie Feierabend» und «Der Lauf des Lebens»). In seiner Fernsehkarriere war er unter anderem Redaktor bei der «Rundschau», Korrespondent des Schweizer Fernsehens in Moskau, Leiter von «10 vor 10» und Programmentwickler der Chefredaktion des Schweizer Fernsehens. Müller gewann verschiedene Auszeichnungen, unter anderem den Zürcher Fernsehpreis 2004 und für seine Sendung «Reporter» den Tele-Programmpreis 2006. (TA)


 

«Ich bin sicher, es ist besseres Fernsehen. Ich zweifle, ob es besserer Journalismus ist. JIM CLANCY, CNN


 

Nahe dran und doch weit entfernt von den eigentlichen Geschehnissen: Embedded journalism, beispielsweise im Irak-Krieg.


 

BILD JOSE HENAO/GETTY IMAGES